Krankheitsbezug macht Verteilung von Psychotherapeuten bedarfsorientierter

In der Diskussion um einen besseren Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung plädieren Experten dafür, Psychotherapeutensitze stärker am Bedarf der Menschen vor Ort zu verteilen. Dazu sollten künftig regionale Unterschiede der Häufigkeiten psychischer Erkrankungen in die Bedarfsplanung einfließen. Ein eigens entwickelter Bedarfsindex macht das möglich.

Berlin, 17. November 2016 (IGES Institut) - Das zeigt eine Studie des IGES Instituts im Auftrag der Bertelsmann Stiftung und der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Um regionale Unterschiede des psychotherapeutischen Versorgungsbedarfs besser zu erfassen, nutzten IGES-Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit Professor Frank Jacobi von der Psychologischen Hochschule Berlin für diesen Zweck erstmals epidemiologische Daten des Robert Koch-Instituts (RKI). Auf dieser Basis analysierten sie, welche soziodemografischen Faktoren die Häufigkeit (Prävalenz) psychischer Leiden maßgeblich beeinflussen. Dies sind Geschlecht, Alter, Schulabschluss, Arbeitslosigkeit sowie Siedlungsdichte.

Höherer psychotherapeutischer Bedarf bei Senioren

So haben etwa Frauen, Arbeitslose und Menschen ohne Schulabschluss ein höheres Risiko für psychische Störungen. Auch mit dem Alter nimmt das Risiko ab: Es beträgt für Menschen im Alter ab 65 Jahren nur 55 Prozent des Risikos für die unter 65-Jährigen. Das Altersgefälle ist damit aber deutlich weniger stark als derzeit in der Bedarfsplanung unterstellt: Nach dem gegenwärtig verwendeten Demografiefaktor beträgt der Leistungsbedarf der Menschen im Alter ab 65 im Verhältnis zu den unter 65-Jährigen nur 13,5 Prozent. Damit ergibt sich durch den Krankheitsbezug ein relativ höherer Bedarf der Älteren im Vergleich zur heutigen Bedarfsplanung.

Mit den auf Basis der RKI-Daten ermittelten Einflussfaktoren können für jeden Landkreis und jede kreisfreie Stadt spezifische Krankheitshäufigkeiten geschätzt werden. Ein neu entwickelter Bedarfsindex fasst sie zusammen. Danach erleiden je nach Planungsbereich zwischen 23,4 und 31,8 Prozent der Bewohner innerhalb eines Jahres eine psychische Störung. Im bundesweiten Durchschnitt sind es 27,8 Prozent. Bezogen auf diesen Bundesdurchschnitt ergeben sich erhöhte oder verringerte Versorgungsbedarfe an psychotherapeutischer Betreuung. Diese Abweichungen reichen von einem Minderbedarf von 15 Prozent bis zu einem Mehrbedarf von 15 Prozent.

Je nachdem, wie viele Psychotherapeuten je Einwohner im bundesweiten Durchschnitt vorgesehen sind, kann nun berechnet werden, ob je nach erwarteter Krankheitshäufigkeit in einer Region mehr oder weniger Therapeuten notwendig sind. Die IGES-Experten haben dies unter anderem mit der aktuell geplanten Zahl der Psychotherapeuten getan. So sind nach der derzeitigen Bedarfsplanung insgesamt rund 16.400 Psychotherapeutensitze vorgesehen. Das entspricht etwa 4.920 Einwohner je Therapeut als bundeseinheitliche Verhältniszahl.

Umverteilung von mehreren tausend Psychotherapeutensitzen

Auf Grundlage des neuen Bedarfsindex ergibt sich nun eine gleichmäßigere Verteilung der Therapeutensitze. So wären für Großstädte im Vergleich zur heutigen Bedarfsplanung insgesamt rund 2.800 Sitze weniger vorzusehen, während sich für alle anderen Regionen ein Mehrbedarf von insgesamt knapp 3.000 Psychotherapeuten ergibt.

Die nun vorgelegte Studie knüpft an vorausgegangene Konzepte des IGES Instituts für die Bedarfsplanung im ärztlichen Bereich an, die im Rahmen eines Gutachtens für die Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und für den Faktencheck Ärztedichte der Bertelsmann Stiftung entstanden sind. Sie will Impulse geben, die psychotherapeutische Versorgung bedarfsorientierter und wohnortnäher zu gestalten. Damit hatte der Gesetzgeber den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) im Rahmen des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes (VSG) bis zum 1. Januar 2017 beauftragt.

Mit dem neuen Bedarfsindex könnte die Zahl der Psychotherapeuten zwar genauer geplant werden. Der Index sagt jedoch nichts über den Gesamtbedarf an Psychotherapeuten aus. Dieser wird auf der Grundlage von Einwohner-Arzt-Verhältniswerten zu historischen Stichtagen bestimmt.