Experte: vom Patienten zum User des Versorgungssystems
Die besonders in ländlichen Regionen drängenden Versorgungsprobleme lassen sich mit den klassischen Institutionen des Gesundheitswesens nicht mehr lösen. Daher werden sich neue Berufe sowie die digitale Kommunikation mit ihren vielfältigen Möglichkeiten besonders vom Land her entwickeln.
Berlin, 10. September 2015 (IGES Institut) - Das Land wird somit zu einem Schrittmacher für die gesamte Gesellschaft und zu einer Blaupause für das Gesundheitssystem der Zukunft. Darauf hat der IGES-Leiter, Prof. Bertram Häussler, in einem Vortrag auf dem Demografiekongress 2015 in Berlin hingewiesen.
Die Entwicklungen verändern künftig auch die Rolle des Patienten: Vor allem die neuen digitalen Dienste ermöglichen es, Patienten in praktisch alle Kommunikationslinien einzubeziehen und damit ihre Autonomie und Mitgestaltungsmöglichkeiten dramatisch zu erhöhen. Der Patient wird damit erstmals „im Mittelpunkt“ stehen. Aus dem geduldig „Erleidenden“ wird der aktive Mitgestalter – der „User“ im Gesundheitssystem.
Vortragsabstract: Medizinische Versorgungskonzepte für ländliche Regionen
Demografiekongress 2015, 4. September 2015
Prof. Dr. Bertram Häussler, Vorsitzender der Geschäftsführung, IGES Institut
Mit dem Rückgang der Bevölkerungsdichte auf dem Land geraten herkömmliche Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung – insbesondere die klassische Arztpraxis – zunehmend an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Ihr regionaler Einzugsbereich kann nicht beliebig ausgeweitet werden, weil die von den Patienten zurückzulegende Distanz immer größer werden müsste. Für zahlreiche Konsultationsanlässe steigt damit der zeitliche Aufwand und wird zunehmend untragbar. Darüber hinaus sinkt die Bereitschaft von Ärzten, sich in ländlichen Regionen niederzulassen, so dass die klassische Versorgung zusätzlich in Frage gestellt wird.
Das Versorgungssystem ist geprägt durch die jahrzehntelang erfolgreiche Politik der ärztlichen Standesorganisationen, den niedergelassenen Arzt als Kern des Versorgungssystems zu verteidigen - sowohl im Hinblick auf die zentrale Stellung der Arztpraxis als auch der zentralen Stellung des Arztes bei der Erbringung medizinischer Leistungen. Mit der Wiedervereinigung konnte dieses Bild auf die neuen Bundesländer im Großen und Ganzen übertragen werden. Zwar ergaben sich in den vergangenen Jahren zunehmend Veränderungen zugunsten angestellter Ärzte in größeren Versorgungszentren. Diese fanden aber überwiegend in städtischen Regionen statt.
Vor dem Hintergrund einer aufziehenden Versorgungskrise haben sich gerade in ländlichen Regionen Modelle für Berufe ergeben, die neben dem niedergelassenen Arzt zahlreiche ärztliche Aufgaben übernommen haben. Insbesondere das „Agnes“-Projekt in Brandenburg ist ein Beispiel dafür, wie aus der initialen Versorgungsnot in unterversorgten Regionen der Einfluss von „Versorgungsmanagern“ auch in allen anderen Regionen des Landes – auch in der Stadt – voranschreitet. Dies kann als funktionale Antwort auf die Schwäche der Ärzte gesehen werden, steuernde und planende Aufgaben der Versorgung zu bewältigen.
Die digitale Kommunikation ist in vielen Ländern zu einem integralen Bestandteil des Versorgungssystems geworden. Deutschland hat diesbezüglich und bekanntermaßen in praktisch allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft einen enormen Entwicklungsrückstand. Dennoch haben sich gerade in ländlichen Regionen unter dem Druck der nachlassenden Versorgungsdichte digitale Lösungen entwickelt. Diese beziehen sich zum Einen auf den Austausch zwischen Experten (z. B. Teleradiologie) als auch vor allem auf den Austausch zwischen Patienten und Experten (z. B. in der Psychotherapie) sowie zwischen Patienten und neuen Typen von Leistungserbringern (z. B. telekardiologische Zentren). Diese zeigen zunehmend auch außerhalb von Projekten, dass sie sich in die reguläre Versorgung einpassen können und wichtige Funktionen übernehmen können. Über diesen Umweg wird zunehmend deutlich, dass diese Dienste überall Nutzen stiften können, nicht nur im ländlichen Raum.
Damit wird das Land zu einem Schrittmacher auch und gerade für den Einzug der digitalen Dienste in die Gesundheitsversorgung. Zusammen mit den neuen Experten entsteht somit die Blaupause für das Gesundheitssystem der Zukunft, das auch aus Deutschland nicht wegzudenken sein wird. Digitalen Gesundheitsdiensten wird in Deutschland bekanntlich mit enormen Vorbehalten begegnet. Dabei bleibt allerdings außer Acht, dass diese in der Lage sind, den Patienten in praktisch alle Kommunikationslinien einzubeziehen und damit seine Autonomie und Mitgestaltungsmöglichkeiten dramatisch zu erhöhen. Der Patient wird damit erstmals „im Mittelpunkt“ stehen. Aus dem geduldig „Erleidenden“ wird der aktive Mitgestalter – der „User“ im Gesundheitssystem.