Pflegeexperten fordern weitere Anstrengungen zur Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs

Symposium zur Zukunft der Pflege am IGES Institut

In großer Bandbreite haben Expertinnen und Experten auf einem Symposium des IGES Instituts unter dem Motto „Pflegepolitik für die Praxis von morgen“ Chancen und Herausforderungen in der Pflege im Kontext des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs diskutiert. Impulse aus pflegewissenschaftlicher, vertrags- und leistungsrechtlicher Sicht sowie der Pflege- und Berufspolitik skizzierten bisherige Entwicklungen und aktuelle Rahmenbedingungen zur Umsetzung des neuen Pflegeverständnisses und mahnten weitere Anstrengungen an.

Berlin, 13. September 2022 (IGES Institut) - Hans-Dieter Nolting, Geschäftsführer des IGES Instituts, eröffnete die Veranstaltung in Berlin und stimmte die Anwesenden auf den Anlass und die Zielsetzung ein. Das Symposium wurde vom IGES Instituts anlässlich des 70. Geburtstag der Pflegexpertin Elisabeth Beikirch initiiert, die in ihrem langjährigen Berufsleben etwa als Ombudsfrau zur Entbürokratisierung der Pflege im Bundesministerium für Gesundheit sowie auf vielen weiteren Feldern der Pflegepraxis- und Pflegepolitik laut Nolting „tiefe Spuren hinterlassen hat“. Inzwischen ist Beikirch als Senior Beraterin am IGES Institut tätig.

Laumann

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, und Elisabeth Beikirch, Senior Beraterin am IGES Institut

„Der Erfolg des Strukturmodells ist wesentlich auf das Engagement von Elisabeth Beikirch zurückzuführen“, sagte der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Karl-Josef Laumann. Nun gehe es darum darauf zu achten, dass die Dokumentation nicht wieder zunehme. Laumann sprach ferner von einem großen Auftrieb, den die Pflege in den vergangenen Jahren erhalten habe und sieht diese „auf Augenhöhe mit anderen Disziplinen“. Daher plädierte er dafür, dass nicht der Gesetzgeber die Belange der Pflege regeln solle, sondern die Profession selbst und forderte erneut die Etablierung von Pflegekammern: „Ich bin ein starker Befürworter der Pflegekammern.“ Er nannte zudem als Ziel, eine „Bank Pflege“ als vierte Bank mit Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss zu schaffen.

Um den Kern der Altenpflege, die Beziehung zwischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen, ging es in einem Vortrag der Medizinerin und Geschäftsführenden Direktorin der Hans-Weinberger-Akademie der Arbeiterwohlfahrt e.V., Mona Frommelt: „Professionelle Beziehungspflege ist Grundlage und Voraussetzung für gute Pflege.“ Dies setzte allerdings gute Arbeitsbedingungen und Zeit zur Reflexion voraus. Die hierdurch spürbare Anerkennung ihrer Fachlichkeit führt bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Pflege und Betreuung unter anderem zu mehr Zufriedenheit, sei ein Beitrag zur betrieblichen Gesundheitsförderung und fördere den Verbleib im Beruf.

Auch Prof. Dr. Martina Roes, Professorin für Pflegewissenschaft und Versorgungsforschung an der Universität Witten/Herdecke, nahm unter anderem den Beziehungsaspekt mit Blick auf das das standardisierte Dokumentieren und Evaluieren in der Pflege auf: „Standardisiertes Vorgehen mit vordefinierten Dokumentationsinhalten widerspricht dem narrativ und situationsorientierten Geschehen des Pflegealltags und der Fallorientierung.“ Roes sprach von einem „ewig bestehenden Dilemma“, das es zu überwinden gelte. Sie wies zudem darauf hin, dass noch immer definierte Evaluationskriterien fehlten, um die Komplexität der Pflege abzubilden.

Prof. Dr. h.c. Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe, beschäftigte sich mit berufspolitischen Fragen in der Pflege. Sie bezeichnete die Vereinheitlichung der Pflegeausbildung als Erfolg und betonte die Akademisierung in der Pflege. Sie forderte unter anderem eine stärkere Etablierung von Advanced Practice Nurses, APNs, vor allem in der Langzeitpflege zur Qualitätsentwicklung in der Pflege und für vielfältige Steuerungsaufgaben insbesondere in der pflegerischen Versorgung.

Prof. Dr. Andreas Büscher, Professor für Pflegewissenschaft an der Hochschule Osnabrück, analysierte die bisherigen Pflegereformen. „Das Denken über Pflege erfolgt oftmals immer noch über Verrichtungen.“ Er verwies zudem auf ungelöste Fragen der Regelung der Pflege im Zusammenspiel der Sozialgesetzbücher IX und V. „Pflege ist eine sehr umfassende gesellschaftliche Aufgabe, die mit unkoordinierten Einzelmaßnahmen kaum zu bewältigen sein wird.“ Seiner Meinung beantworte der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff trotz seiner großen Reichweite und umfassenden Möglichkeiten nicht alle Fragen der Pflege.

Dr. Markus Plantholz, Sozialrechtsexperte und Fachanwalt für Medizinrecht bei Dornheim Rechtsanwälte & Steuerberater, erörterte die Schwierigkeiten der rechtlichen Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes anhand der vertraglichen Rahmensetzung und der Leistungsvergütung in der ambulanten Pflege. Er wies auf bisher „unbekannte“ rechtliche Probleme und mögliche Lösungsansätze hin, die nun breit diskutiert werden müssten. Er plädierte zudem für ein Nebeneinander von Vergütung nach Leistungskomplexen und Vergütung nach Zeit, was er rechtlich für machbar halte.

Verschiedene Impulse und Sichtweisen der Kosten- und Einrichtungsträger, des Bundesministeriums für Gesundheit und der Privaten Krankenversicherung zum Stand der Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs sowie dem künftigen Handlungsbedarf kamen bei einer abschließenden Podiumsdiskussion auf.

Dr. Martin Schölkopf, Leiter Abteilung Pflegeversicherung und – Stärkung des Bundesministeriums für Gesundheit, hob hervor, dass die bundesweite Einführung des Strukturmodells als gemeinsame Aktion aller zentraler Akteure für ihn ein gelungenes Beispiel sei, das nachhaltige Veränderungen in der Praxis auch ohne eine Rahmensetzung durch den Gesetzgeber möglich seien, wenn sich alle fachlich und strategisch einig seien Mit Blick auf die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sieht er bei zentralen Faktoren wie etwa der Vergütung die Entwicklungen auf einem guten Weg. Dennoch sagte er: „Wir sind bei Weitem nicht da, wo wir hinmüssten.“

Dr. Gerhard Timm, Geschäftsführer, Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V., wies wie andere Referenten auf die unterschätzten rechtlichen Hürden bei der Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes hin: „Der partizipative Ansatz im neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ist viel schwieriger in Rechtsform zu fassen als verrichtungsbezogene Dinge.“ Gerne würde er „alles völlig neu aufsetzen.“

Bernd Tews, Geschäftsführer, Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienst e.V., sagte, dass die Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs „begrenzt gelungen ist“. Man könne vieles aus dem Gesetz ableiten, wenn unterschiedliche Akteure sich darauf verständigen, wie der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff zu verstehen sei und was Pflege leisten soll. Zudem dürfe die Weiterentwicklung der Versorgungsqualität nicht ohne Sicherstellung der aktuellen Versorgung diskutiert werden, so Tews.

„Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff ist bei den Versicherten angekommen, wenn man sich die Leistungen anschaut“, sagte Dr. Florian Reuther, Direktor des Verbandes der Privaten Krankenversicherung (PKV). Mit Blick auf die finanziellen Dimensionen der Pflege und den Pflegekräftemangel plädierte er für mehr Eigenvorsorge und wirksame Prävention, um verbleibende Kompetenzen bei Pflegebedürftigen zu erhalten: „Je wirksamer die Prävention, desto besser können wir unsere Mittel einsetzen.“

Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes, nannte die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs einen „überfälligen Durchbruch einer Kulturrevolution“. Schwierigkeiten bei einem so komplexen Prozess überraschten dabei nicht, doch „man befindet sich auf einem Weg der Veränderung.“ Die Personalnot mache die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes aber zunehmend komplexer.

Elisabeth Beikirch, Senior Beraterin am IGES Institut, betonte in ihren Schlussworten zum Ausklang des Symposiums, dass es weiterhin großer Anstrengungen bedarf, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff umzusetzen: „Bei der Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs in all seinen Dimensionen, sollten wir nochmal überlegen, inwieweit erneut eine gemeinsame Plattform aller Akteure die Praxis zielgerichtet und unideologisch fachlich wie strategisch unterstützen kann, die vielen gesetzlichen Neuerungen umzusetzen.“ Zudem dürfe nicht vergessen werden, ob Pflegebedürftige und deren Angehörige das neue Pflegeverständnis auch wirklich annähmen. „Wir dürfen nicht an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und ihrer Familien vorbeigehen“, betonte Beikirch.

An dem von IGES konzipierten Symposium nahmen rund 150 Gäste aus Politik, Verbänden, Praxis und Pflegewissenschaften teil, darunter Vertreterinnen und Vertreter aus Ministerien auf Landes- und Bundesebene, freigemeinnützigen und privaten Verbänden, Trägerorganisationen, Berufsverbänden der Pflege, aus der Softwarebranche und Fachmedien sowie von gesetzlichen und privaten Kostenträgern.

Für die freundliche Unterstützung der Veranstaltung dankt das IGES Institut: