Gutachten: unerreichte Ziele in der Versorgung von Diabetikern
Die Versorgung von Menschen mit Diabetes weist noch immer erhebliche Defizite auf. Die vor 23 Jahren gesetzten, wegweisenden Ziele der St.-Vincent-Deklaration sind weitestgehend verfehlt. Dennoch: Punktuell lassen sich seit den 1990er-Jahren in einigen Bereichen Verbesserungen nachweisen. Großes Manko bleibt jedoch die mangelhafte Datenlage vor allem zu patientenrelevanten Endpunkten, um wirklich über Behandlungserfolge urteilen zu können. Das geht aus einem IGES-Gutachten hervor, in dem Wissenschaftler gesundheitspolitischen Initiativen zur Verbesserung der Diabetes-Versorgung analysiert und bewertet haben.
Berlin, 07. März 2012 (IGES Institut) - Ein Erfolg ist die starke Abnahme der Neuerblindungsrate. So zeigt eine regionale Studie, dass die Inzidenz an Neuerblindungen seit den 1990er-Jahren bei Diabetikern um rund die Hälfte abgenommen hat. Ein Rückgang um rund 30 Prozent ist bei Nicht-Diabetikern zu verzeichnen. Damit gibt es Hinweise auf die Erreichung wenigstens eines St.-Vincent-Ziels.
Hinweis auf weniger Neuerblindungen
Es gibt ferner Hinweise dafür, dass in der Allgemeinbevölkerung Sterbefälle an Myokardinfarkt abnehmen, Krankenhausfälle mit Myokardinfarkt hingegen nicht. Die Übertragbarkeit dieses Trends auch auf Diabetiker wird als wahrscheinlich angesehen, was aber im Umkehrschluss keine Diabetes-Spezifität zulässt. Trotzdem wurde das Ziel der „Reduktion der Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit durch koronarer Herzerkrankung“ hinsichtlich der Sterblichkeit wahrscheinlich erreicht.
Niereninsuffizienz nimmt sogar zu
Im Gegensatz dazu wurde das Ziel, die Häufigkeit von terminalem Nierenversagen zu reduzieren, nicht erreicht. St.-Vincent-Vorgabe war eine Abnahme um ein Drittel oder mehr. Zwar werden im Vergleich zur Versorgung vor zehn Jahren häufiger Kontrolluntersuchungen der Niere durchgeführt. Zur weiteren Beurteilung liegen jedoch widersprüchliche Befunde vor bzw. fehlen Daten. Insgesamt bewegen sich diabetesbedingte Nierentransplantationen auf einem gleichbleibend hohem Niveau.
Außerdem ist eine Zunahme Verstorbener an chronischer Niereninsuffizienz in der Allgemeinbevölkerung beobachtbar, die auch bei Menschen mit Diabetes zu beobachten sein dürfte, heißt es in dem Gutachten.
Das Ziel, die Häufigkeit von Amputationen zu halbieren, wurde bisher nicht erreicht. Während eine regionale Studie einen starken Rückgang der Amputationsrate bei Menschen mit Diabetes zwischen 1990 und 2005 ermittelte, zeigt sich in der Krankenhausstatistik, in der Daten nicht nur zu Diabetikern eingehen, in den Jahren 2006 bis 2010 kein solcher Trend.
Prozessfokussierung bei den DMP
Die Evaluation der DMP zeigt für Menschen mit Diabetes an etlichen Stellen Verbesserungen, wie die IGES-Experten in dem Gutachten zusammenfassen. So werden Diabetiker innerhalb von DMP tendenziell eher leitliniengemäß medikamentös behandelt, erhalten die notwendigen Kontrolluntersuchungen und nehmen häufiger an Schulungen teil als außerhalb von DMP. DMP-Teilnehmer haben schon bei Einschreibung einen gut eingestellten HbA1c-Wert und es gelingt, diesen bei zunehmender Erkrankungsdauer zu halten.
DMP-Teilnehmer messen ihren Blutdruck häufiger selbst als Nicht-Teilnehmer, erhalten häufiger blutdrucksenkende Medikamente und erreichen auch häufiger ihre Zielwerte, obwohl eine ärztliche Kontrolle des Blutdrucks nicht häufiger stattfindet als bei Nicht-Teilnehmern. Dagegen lassen sich zur Zielwerterreichung hinsichtlich der Blutfette aufgrund unzureichender Daten keine Aussagen treffen.
Auffällig ist, dass die DMP-Evaluationen zwar etliche konkrete Prozesse oder (Surrogat-)Parameter fokussiert. Aussagen zu patientenrelevanten übergeordneten Zielen und Endpunkten sind jedoch anhand der verfügbaren Evaluationsdaten nur unbefriedigend möglich. Die bedeutsame Frage, ob Neuropathien, Amputationen, Neuerblindungen, (dialysepflichtige) Niereninsuffizienzen oder kardiovaskuläre Ereignisse durch DMP im Sinne der Patienten beeinflusst werden können, muss auch zehn Jahre nach Einführung der Programme als offen betrachtet werden.
Zielsystem für eine bessere Diabetesversorgung nötig
Ziel des Gutachtens war es ferner, Handlungsempfehlungen für eine verbesserte Diabetesversorgung zu geben. Die IGES-Autoren nennen dafür unter anderem die Entwicklung einer nationalen und kontinuierlichen, zielgruppenspezifischen Strategie zur lebensstilbezogenen Primärprävention von Diabetes. Sie plädieren für mehr Versorgungsforschung sowie eine umfassende Bewertung der etablierten DMP-Maßnahmen hinsichtlich ihres Wirkpotenzials und des Kosten-Nutzen-Verhältnis. Daneben raten sie, ein erreichbares und überprüfbares, terminiertes nationales Zielsystem im Umgang mit der Volkskrankheit Diabetes zu entwickeln.
Das Gutachten entstand im Auftrag von Novo Nordisk Pharma.