Stellschrauben für die künftige Finanzierung der Pflegeversicherung
Für die Sicherung einer langfristigen Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung hat das IGES Institut zwei maßgebliche Arbeiten vorgelegt. Darin wird zum einen ein Ausblick auf die künftige Finanzentwicklung und den damit verbundenen Beitragssatz bis zum Jahr 2060 gegeben. Zum anderen werden verschiedene Reformoptionen durchgespielt und deren Auswirkungen auf die Einnahmen und Ausgaben der Pflegekassen und Sozialhilfeträger sowie die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen berechnet. Dies geschah im Auftrag einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter Leitung des Bundesministeriums für Gesundheit.
Berlin, 15. Juli 2024 (IGES Institut) - Der Blick auf die künftige finanzielle Lage der sozialen Pflegeversicherung (SPV) erfolgte in Form von neun Szenarien. Dabei wurden verschiedene Annahmen zur Dynamisierung der Pflegeleistungen, zur Lohnentwicklung und zur Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen modelliert sowie betrachtet, wie dies zukünftig die Finanzlage der SPV und damit die Entwicklung des Beitragssatzes beeinflussen könnte. Dabei wurde davon ausgegangen, dass (zunächst) keine sozialpolitischen Reaktionen auf die Entwicklungen erfolgen. Die Projektionen stellen somit keine Voraussage dar, sondern sie dienen dazu, den sozialpolitischen Handlungsbedarf aufzuzeigen.
Ausgangspunkt für die Analysen war ein durchschnittlicher ausgabendeckender Beitragssatz in der Pflegeversicherung von 3,2 Prozent im Basisjahr 2022. Der allgemeine Beitragssatz lag zu diesem Zeitpunkt noch bei 3,05 Prozent (mit Kindern), während Kinderlose einen Beitrag in Höhe von 3,40 Prozent vom Bruttoeinkommen zahlen mussten. In einem Basisszenario, in dem die IGES-Experten von einer mittleren Entwicklung der Einflussfaktoren und einer werterhaltenden Leistungsdynamisierung ausgingen, würde sich eine Erhöhung des Beitragssatzes bis auf 4,6 Prozent im Jahr 2060 ergeben.
Einfluss von Lohnentwicklung und Zahl der Pflegebedürftigen
Insbesondere die Lohnentwicklung im Zusammenwirken mit der Entwicklung der Pflegeprävalenz bestimmt die Höhe des Beitragssatzes. So zeigen sich die stärksten Beitragsanstiege vor allem in den betrachteten Szenarien mit schwacher Lohnentwicklung. Steigen etwa die Löhne jährlich nur um zwei Prozent und wächst die Zahl der Pflegebedürftigen um jährlich 1,9 Prozent über einen Zeitraum von 15 Jahren, ergibt sich der stärkste Beitragssatzanstieg auf 5,5 Prozent im Jahr 2060. Allerdings geht auch von der Pflegeleistungsdynamisierung eine Finanzwirkung aus. So hätte eine Erhöhung der Leistungsdynamisierung um 1,5 Prozentpunkte pro Jahr in etwa den gleichen Beitragssatzeffekt wie eine Verringerung der Lohnentwicklung um 1,0 Prozentpunkte pro Jahr und gleichzeitiger Verlängerung des Zeitraums des Prävalenzanstiegs um fünf Jahre.
Umgekehrt könnte der Beitragssatz zukünftig auch sinken: Dies ergibt sich, wenn die Löhne um jährlich 4,0 Prozent stark zulegen und gleichzeitig die Zahl der Pflegebedürftigen nur innerhalb der kommenden fünf Jahre weiter überproportional zunimmt. Unter diesen Bedingungen könnte der Beitragssatz im Jahr 2060 sogar auf 2,9 Prozent fallen, vorausgesetzt, die Pflegeleistungen werden jährlich nur um 1,5 Prozent dynamisiert.
Rund 20 verschiedene Stellschrauben für die SPV durchgespielt
In einer zweiten Untersuchung spielten die IGES-Wissenschaftler die Effekte von verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten der SPV durch. Rund 20 verschiedene „Stellschrauben“ und deren finanzielle Folgen bis ins Jahr 2060 wurden betrachtet. Dazu gehören etwa das Anheben der Beitragsbemessungsgrenze, die Beitragspflicht für weitere Einkommensarten, ein progressiver Beitragssatz, ein Risikoausgleich mit der privaten Pflegeversicherung, eine verpflichtende private Zusatzversicherung oder auch die Erweiterung zu einer Pflegevollversicherung.
Pflegevollversicherung hätte Beitragssatzerhöhung zur Folge
Für einige Reformoptionen ergibt sich eine Beitragssatzerhöhung im Jahr 2060 von bis zu 1,1 Prozentpunkten gegenüber dem Basisszenario mit 4,6 Prozent, also auf 5,7 Prozent. Dazu gehört etwa die Einführung einer Pflegevollversicherung.
Für die meisten Reformoptionen ergeben die Modellierungen hingegen eine Beitragssatzsenkung von bis zu 0,5 Prozentpunkten bis zum Jahr 2060 – vorausgesetzt, eingesparte oder neu gewonnene Mittel würden zur Beitragssatzsenkung genutzt. Beispiele dafür umfassen die Finanzierung der Rentenversicherungsbeiträge der Pflegepersonen durch Dritte, eine Kompensation der Pflegeversicherung für die beitragsfreie Familienversicherung oder die Aufhebung der Beitragsfreiheit des Elterngeldes. Ein Anheben der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau in der Rentenversicherung wäre mit einer Beitragssatzsenkung im Jahr 2060 um 0,2 Prozentpunkte verbunden. Bezieht man zusätzlich noch weitere Einkommensarten wie Kapitaleinkünfte sowie Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zur Berechnung des Versicherungsbeitrages ein, könnte der Beitragssatz sogar um 0,3 Prozentpunkte fallen. Der ausgabenseitige Risikoausgleich zwischen der sozialen und der privaten Pflegeversicherung könnte den Beitragssatz um 0,2 Prozentpunkte senken.
Zahlreiche Beispiele für eine Beitragssatzsenkung
Ein Anheben der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau in der Rentenversicherung wäre mit einer Beitragssatzsenkung im Jahr 2060 um 0,2 Prozentpunkte verbunden. Bezieht man zusätzlich noch weitere Einkommensarten wie Kapitaleinkünfte sowie Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zur Berechnung des Versicherungsbeitrages ein, könnte der Beitragssatz sogar um 0,3 Prozentpunkte fallen. Der ausgabenseitige Risikoausgleich zwischen der sozialen und der privaten Pflegeversicherung könnte den Beitragssatz um 0,2 Prozentpunkte senken.
Zu den stärkeren Effekten gehört ein progressiver Beitragssatz (bis zu 1,7 Prozentpunkte Beitragssatzsenkung gegenüber dem Basisszenario mit einem Beitragssatz von 4,6 Prozent). Für eine Pflegebürgerversicherung in der Variante mit unmittelbarem Einbezug aller Privatversicherten in die soziale Pflegeversicherung ergeben die Modellrechnungen eine Beitragssatzsenkung um 0,4 Prozentpunkte im Jahr 2060. Würde man sie mit den einnahmenseitigen Stellschrauben kombinieren, ließe sich der Effekt noch verstärken, auf bis zu 0,8 Prozentpunkte Beitragssenkung.
Auch ließe sich der Beitragssatz mit einer rein inflationsorientierten Leistungsdynamisierung, einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik oder einer verpflichtenden privaten Zusatzversicherung senken. Bei Umsetzung dieser Reformoptionen könnte sich der Beitragssatz im Jahr 2060 um jeweils etwa 1,0 Prozentpunkte gegenüber dem Basisszenario (4,6 Prozent) verringern.
Hintergrund dieser Arbeiten ist ein im Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) festgelegter Auftrag an die Bundesregierung, Vorschläge für die langfristige Leistungsdynamisierung zu erarbeiten und bis zum 31. Mai 2024 Empfehlungen für eine stabile und dauerhafte Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung (SPV) vorzulegen. Zur Umsetzung dieses gesetzlichen Auftrags hat die Bundesregierung eine interministerielle Arbeitsgruppe (AG) „Zukunftssichere Finanzen der SPV“ unter Federführung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) eingesetzt. Bei ihrer Arbeit wurde die AG durch externe wissenschaftliche Expertise des IGES Instituts unterstützt. Die Ergebnisse der IGES-Arbeiten flossen in einen Abschlussbericht der Bundesregierung ein. Den Bericht „Zukunftssichere Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung – Darstellung von Szenarien und Stellschrauben möglicher Reformen“ verabschiedete das Bundeskabinett am 3. Juli 2024. Im Anschluss wurde der Bericht an Bundestag und Bundesrat übermittelt.