„Hirndoping ist kein Massenphänomen“
Interview mit Jörg Marschall, Projektleiter im Bereich „Arbeitswelt & Demografie“ am IGES Institut, über Doping im Job.
Anlass ist die Vorstellung des DAK-Gesundheitsreports 2015. Der Report widmet sich in seiner jüngsten Ausgabe der Frage, ob und wie sich der Missbrauch von Medikamenten zur Leistungs- und Stimmungsverbesserung in der Arbeitswelt verändert hat.
Was ist Doping am Arbeitsplatz?
Marschall: Dabei handelt es sich um die Verwendung verschreibungspflichtiger Medikamente ohne medizinische Notwendigkeit, um Hirnfunktionen wie Konzentration, Wachheit oder das Erinnerungsvermögen zu verbessern. Auch der Versuch das psychische Wohlbefinden zu verbessern oder Ängste und Nervosität abzubauen gehört dazu. Doping am Arbeitsplatz ist also der Missbrauch von Medikamenten, um beruflichen Anforderungen besser gewachsen zu sein. Der Fachbegriff ist übrigens pharmakologisches Neuroenhancement.
Ist „Hirndoping“ ein weit verbreitetes Phänomen?
Marschall: Unter Erwerbstätigen ist pharmakologisches Neuroenhancement sicher kein Massenphänomen. Geht man vom „harten Kern“ derjenigen aus, die dies aktuell und regelmäßig, also mindestens zweimal im Monat tun, dann haben wir es mit einem Anteil von etwa zwei bis 3,5 Prozent der Erwerbstätigen zu tun. Der Anteil, der wenigstens erste Erfahrungen damit hat, ist aber erheblich höher: knapp sieben Prozent sind „Jemals-Verwender“, sie haben also wenigstens einmal im Leben pharmakologisches Neuroenhancement betrieben. Und es gibt eine hohe Dunkelziffer, die wir aufgrund unserer Befragung recht gut quantifizieren können. Demnach sind es nicht nur knapp sieben, sondern 12 Prozent „Jemals-Verwender“. In einem Unternehmen mit 100 Beschäftigten müsste man dort also mit 12 Mitarbeitern rechnen, die Hirndoping einmal oder mehrmals versucht haben, davon drei, die dies regelmäßig tun.
Hat Doping am Arbeitsplatz zugenommen?
Marschall: IGES hat bereits 2008 im Rahmen des DAK-Gesundheitsreports eine vergleichbare Umfrage durchgeführt. Daher können wir auch etwas über die zeitliche Entwicklung sagen: Die Verwendung von pharmakologischem Neuroenhancement unter Erwerbstätigen hat zugenommen. Der Anteil der „Jemals-Verwender“ betrug 2008 weniger als fünf Prozent. Vor allem aber das Wissen um die vermeintlichen Möglichkeiten, Medikamente zum Hirndoping verwenden zu können, hat stark zugenommen. 2008 wussten 45 Prozent, dass bestimmte Medikamente zur Leistungssteigerung, zur Stimmungsverbesserung oder zum Abbau von Nervosität und Ängsten verwendet werden können. 2014 wussten dies schon 69 Prozent. Daraus folgt aber nicht zwangsläufig eine größere Bereitschaft zum Hirndoping. Tatsächlich lehnt der große Teil der befragten Berufstätigen Hirndoping ab.
Sind Männer und Frauen gleich anfällig für das Dopen?
Marschall: Ja, unter Männern und Frauen finden wir vergleichbare Anteile an Hirndopern. Männer versuchten jedoch eher als Frauen, ihre berufliche Leistung durch vermeintlich leistungssteigernde Mittel zu verbessern. Frauen betrieben eher Doping zum psychischen Wohlbefinden oder zum Abbau von Ängsten und Nervosität und erhoffen sich hiervon eine bessere Performance im Beruf.
Warum und in welchen Situationen nehmen Berufstätige Medikamente zu Leistungssteigerung oder für ein besser psychisches Wohlbefinden ein?
Marschall: Für die Hälfte der Verwender sind es konkrete, jobbedingte Anlässe, bei denen man guter Stimmung, fit und aufmerksam sein möchte. Das können Prüfungen, Auftritte, Präsentationen oder schwierige Gespräche oder wichtige Verhandlungen sein. Ein weiterer wichtiger Grund, den Hirndoper angeben ist, dass ihnen die Arbeit so leichter von der Hand geht. Wir haben Hinweise, dass Berufstätige besonders gefährdet sind, deren Arbeit viel Kontakt mit Menschen erfordert, die ihre Gefühle unter Kontrolle haben müssen oder sogar bestimmte Gefühle zum Ausdruck bringen müssen. Das betrifft etwa Flugbegleiter oder Beschäftigte im Gesundheitswesen oder Gesundheitspersonal. Interessanterweise erhoffen sich einige durch das Hirndoping auch mehr Energie für das Private, sie wollen also nach einem anstrengenden Tag noch Energie für Familie oder Hobbies haben.
Welche Trends beim Thema Hirndoping erwarten Sie künftig?
Marschall: Pharmakologisches Neuroenhancement lehnen derzeit die meisten Erwerbstätigen grundsätzliche ab. Unsere Befragung zeigt deutlich, dass für die meisten die Einnahme von Medikamenten eine medizinische Notwendigkeit haben muss. Zudem wissen offenbar die meisten um die Gefahren, die mit pharmakologischem Neuroenhancement einhergehen.
Wir haben übrigens auch Fachleute aus Medizin, Sozialwissenschaften, Bioethik befragt. Diese wehren sich ganz einhellig gegen Versuche, pharmakologisches Neuroenhancement als ein legitimes Mittel zur Verbesserung des menschlichen Leistungsvermögens anzuerkennen oder gar zu fördern. Wahrscheinlich wird die Zahl derer leicht zunehmen, die pharmakologisches Neuroenhancement zumindest mal ausprobieren. Die Zahl der regelmäßigen Verwender, der „harte Kern“, wird vermutlich nur wenig zunehmen.