Gutachten: Nutzen von Zahnspangen unklar

Der Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen muss besser erforscht werden. Das soll helfen, bisher fehlende Leitlinien für die Diagnostik und Therapie von Zahnfehlstellungen zu etablieren. Das hat eine Studie des IGES Instituts im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums ergeben.

Titel der Studie: Kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen

Hintergrund: Die Ausgaben für kieferorthopädische Behandlungen steigen stetig. Vor diesem Hintergrund haben mehrere Institutionen im Gesundheitswesen, darunter 2018 der Bundesrechnungshof, den Nutzen kieferorthopädischer Maßnahmen hinterfragt und fehlende wissenschaftliche Erforschung bemängelt.

Fragestellung:Welchen Nutzen haben kieferorthopädischen Behandlungen auf die Mundgesundheit? Was zahlen die gesetzlichen Krankenkassen und Betroffene dafür? Welche Forschungsbedarfe bestehen weiterhin?

Methode: Systematischer Review der wissenschaftlichen Literatur auf Basis systematischer Literaturrecherche sowie strukturierter Handrecherchen.

Ergebnisse: Nach der derzeitigen Studienlage ist unklar, ob diagnostische und therapeutische Maßnahmen in der Kieferorthopädie einen langfristigen Nutzen für die Mundgesundheit haben. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) gab dafür 2017 rund 1,1 Milliarden Euro aus. Weitere Studien sind nötig, aus Basis derer auch bisher fehlende Behandlungsleitlinien etabliert werden sollten.

Autoren: Anja Hoffmann, Simon Krupka, Cornelia Seidlitz, Stephanie Sussmann, Inga Sander, Holger Gothe
    
Auftraggeber: Bundesministerium für Gesundheit

Schlagwörter: Kieferorthopädie, orale Gesundheit, Nutzen, Evidenz

Berlin, 15. Januar 2019 (IGES Institut) - „Auch, wenn wir keine Belege für einen Nutzen der Kieferorthopädie bei Zahnfehlstellungen gefunden haben, mag es ihn doch geben. Das Erfahrungswissen der Kieferorthopäden aus jahrelangen Anwendungen steht in auffallendem Gegensatz zu einem Mangel an Belegen aus wissenschaftlichen Untersuchungen. Um klarer zu sehen, brauchen wir daher dringend weitere, zielführend angelegte Studien. Diese sind jedoch methodisch herausfordernd“, erläutert der Leiter des Bereichs Versorgungsforschung am IGES und Studienautor, Dr. Holger Gothe. So würde der Goldstandard der evidenzbasierten Medizin – randomisierte kontrollierte Studien – bedeuten, durch den Vergleich von unbehandelten und behandelten Patienten Studienteilnehmern Therapien vorzuenthalten. Hier gelte es, alternative tragfähige Studienkonzepte zu finden. Außerdem handele es sich bei den patientenrelevanten Endpunkten um Langzeiteffekte, für deren Erfassung lange Beobachtungszeiten nötig sind.

Kritik des Bundesrechnungshofs an fehlendem Nutzennachweis in der Kieferorthopädie

Anlass war Kritik des Bundesrechnungshofs. Die Behörde hatte im Frühjahr 2018 das unzureichende Wissen über den Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen bemängelt. Sie sieht dieses Evidenzdefizit nicht mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vereinbar.

Das Gutachten sollte daher klären, welchen langfristigen Nutzen die derzeit wichtigsten kieferorthopädischen Maßnahmen für die Mundgesundheit haben. Den Nutzen machten die IGES-Experten dabei an patientenrelevanten Endpunkten wie Zahnverlust, Zahnlockerung, Karies, Entzündungen des Zahnbettes (Parodontitis) und der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität fest. Die Evidenzlage analysierten die IGES-Experten getrennt für diagnostische und für therapeutische Maßnahmen wie etwa Zahnspangen.

Nur wenige und sehr heterogene Studien in der Kieferorthopädie entdeckt

Generell fanden die IGES-Forscher in der weltweiten Literatur nur wenige Untersuchungen, bei denen die langfristigen Auswirkungen auf die Mundgesundheit erfasst wurden. Die Bestimmung erfolgte meist nicht direkt, sondern über Indizes. Dazu gehört unter anderem das Ausmaß der Zahnfehlstellung. Dass Zähne nach kieferorthopädischen Interventionen korrekt stehen, konnten die Studien zwar zeigen. Offen ist aber bisher, ob dies auch langfristig die Mundgesundheit positiv beeinflusst.

Ferner ist die gesamte Studienlage sehr heterogen, weil sich einzelne Studien im Design, in der Methodik oder in Bezug auf einbezogene Patienten sehr unterscheiden. Daher ist derzeit keine abschließende Einschätzung möglich, welchen langfristigen Nutzen Patienten von einer kieferorthopädischen Behandlung haben.

Studien zeigen positiven Einfluss auf Lebensqualität nach kieferorthopädischer Behandlung

Ein wenig anders sieht es für die orale Lebensqualität aus, die erfasst, wie wohl sich Betroffene mit ihrem Gebiss fühlen. Hierzu detektierten die IGES-Experten zwar nur vier Studien. Doch in diesen berichteten die befragten Patienten nach einer kieferorthopädischen Behandlung von einer höheren oralen Lebensqualität als Nichtbehandelte oder Patienten, die sich aktuell in Behandlung befinden. Aber auch hier sind die Studien sehr unterschiedlich angelegt.

Zu Art und Anzahl der notwendigen diagnostischen Maßnahmen in der kieferorthopädischen Behandlungsplanung geben nur wenige Studien Auskunft. Auch hier ist eine Ableitung von Empfehlungen derzeit nicht möglich.

Laufende epidemiologische Studien nutzen

Um in absehbarer Zeit mehr Wissen über den Nutzen von Zahnspangen und Co. zu generieren, empfehlen die IGES-Experten etwa, bereits laufende epidemiologische Studien wie die „Deutsche Mundgesundheitsstudie“ oder die „NAKO-Gesundheitsstudie“ zu nutzen. Auch könnten Auswertungen von so genannten Sekundärdaten wie Abrechnungsdaten von Krankenkassen dabei helfen, Patienten nach abgeschlossener kieferorthopädischer Behandlung weiter zu verfolgen. Aber auch neue, gezielt geplante Studien zur Erhebung patientenrelevanter Endpunkte seien nötig. Mit diesen Erkenntnissen könnten anschließend derzeit fehlende kieferorthopädische Versorgungsleitlinien entwickelt werden, an denen sich Ärzte und Patienten orientieren könnten. Zudem plädieren die Gutachter dafür, unabhängige und ausführliche Informationsmöglichkeiten für Betroffene zu schaffen, etwa im Internet.

GKV-Ausgaben in Höhe von 1,1 Milliarden Euro in 2017 für Kieferorthopädie

Die IGES-Wissenschaftler ergründeten auch die Kosten für Kieferorthopädie. Die GKV-Ausgaben in diesem Bereich steigen seit 2005 stetig an und lagen 2017 bei 1,1 Milliarden Euro. Das entspricht knapp acht Prozent aller Ausgaben für Zahnmedizin. 2005 waren es noch 827 Millionen Euro. Ursache ist eine steigende Zahl von Behandlungsfällen auf fast 7,9 Millionen im Jahr 2016. Bemerkenswert ist, dass im gleichen Zeitraum die Zahl potenzieller Patienten, nämlich Kinder und Jugendliche im Alter zwischen zehn und 20 Jahren, abnahm, was dafür spricht, dass sich die Behandlungskosten pro Patient im Mittel erhöht haben. Hinzuzurechnen sind ferner die von Familien selbst zu tragende Kosten. 75 bis 85 Prozent der Versicherten berichten in Befragungen davon, mindestens eine Zusatzleistung außerhalb der kieferorthopädischen GKV-Leistungen privat bezahlt zu haben. Im Durchschnitt belaufen sich die Ausgaben dafür auf bis zu 1.000 Euro.