Studie: Überversorgung weiterhin vielfältig angehen
Strategien gegen unnötige medizinische Behandlungen zeigen erste Erfolge. Einige Leistungen, die typische Beispiele für Überversorgung darstellen, erfolgen seltener. Experten führen dies unter anderem auf zunehmend kritischere Diskussionen innerhalb der Ärzteschaft zurück. In vielen Bereichen sind die Behandlungszahlen aber zulasten von Patienten weiterhin auffällig hoch. Die Ursachen überflüssiger Diagnostik oder Therapien sind vielfältig und bedürfen weiterhin unterschiedlichster Gegenmaßnahmen.
Berlin, 5. November 2019 (IGES Institut) - Das ist das Fazit eine Literaturanalyse des IGES Instituts im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Dafür haben IGES-Experten in der Fachliteratur nach Belegen und Gründen für Überversorgung sowie nach Vorgehensweisen dagegen recherchiert.
Fachverbände kritisieren unzureichende Vorab-Diagnostik bei Schilddrüsen-OPs
Beispiel Schilddrüsenoperationen: Sie erfolgen zumeist bei gutartigen Veränderungen oder Neubildungen des Schilddrüsengewebes. Krankenkassendaten zufolge liegen bei nur zehn Prozent bösartige Veränderungen zugrunde. Vertreter von Fachverbänden hatten in den vergangenen Jahren immer wieder kritisiert, dass oft voreilig operiert und vorab unzureichend die Notwendigkeit geklärt werde. In der Folge wurden Empfehlungen für eine bessere Indikationsstellung im Rahmen der so genannten Qualitätsinitiative „Entscheide weise“ der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie veröffentlicht.
Die Zahl der in Krankenhäusern vorgenommenen Schilddrüsenoperationen verringerte sich zwar seit 2006 um rund 30 Prozent von 99.000 auf 70.000 im Jahr 2017. Dennoch liegt die OP-Häufigkeit damit immer noch sehr deutlich über jener anderer Länder. Zudem unterscheiden sich die OP-Häufigkeiten regional erheblich, ein typisches Indiz für uneinheitliche Indikationsstellung.
Was den Rückgang der OP-Zahlen genau bewirkt hat, ist unklar. Ein derzeit in der Entwicklung befindliche neue Leitlinie soll künftig dazu beitragen, die Indikationsqualität in der Schilddrüsenchirurgie noch weiter zu verbessern.
Häufigkeit von Röntgen-Diagnostik bei Rückenschmerzen unterscheidet sich regional stark
Beispiel Röntgen-, CT- und MRT-Diagnostik bei Rückenschmerzen, die keine spezifische Ursache haben: Leitlinien zufolge ist bei akuten Kreuzschmerzen ohne Hinweis auf gefährliche Verläufe oder krankhafte Veränderungen keine bildgebende Diagnostik nötig, da dies weder die Therapieentscheidung noch den Behandlungserfolg verbessert. Zudem erhöht dies die Gefahr unnützer therapeutischer Maßnahmen bis hin zur Operation.
Krankenkassendaten zeigen, dass konservativ geschätzt bei 49.000 Versicherten jährlich eine zu frühe oder unnötige radiologische Bildgebungsdiagnostik erfolgt. Allerdings zeigen Untersuchungen inzwischen einen Rückgang an: Erhielten 2011 rund 25 Prozent der Patienten mit neu aufgetretenen Rückenschmerzen bereits schnell eine Bildgebung, waren es 2015 noch 22 Prozent. Auch hierbei bestehen starke regionale Unterschiede. Ob der Rückgang eine Folge von mehr Leitlinientreue der Ärzte ist, ist ebenfalls offen. Bevölkerungsumfragen zeigen auch, dass Patienten bildgebende Maßnahmen häufig erwarten und als wichtig erachten. Daher wird inzwischen auch auf verbesserte Patienteninformation gesetzt.
Übermäßiger Einsatz von Magensäureblockern
Ein weiteres Beispiel für Überversorgung sind die Verordnungszahlen von Magensäureblockern (Protonenpumpeninhibitoren, PPI), die sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt haben. Untersuchungen zeigen, dass sie zu häufig ohne korrekte Indikation, zu lange oder zu hoch dosiert eingesetzt werden. Hier kam es erstmals zwischen 2016 und 2017 zu einem leichten Rückgang der Verordnungen.
Die Auswertung von Aussagen und Aktivitäten innerhalb der Ärzteschaft im Rahmen der IGES-Studie zeigen, dass sich die Ärzteschaft in den vergangenen Jahren zunehmend des Themas „Zuviel an Diagnostik und Therapie“ angenommen hat. Allerdings wird der Begriff „Überversorgung“ nur sehr selten genutzt, was auf die Schwierigkeit zurückgeht, Überversorgung nachzuweisen.
Sichtbar wird das gewachsene Bewusstsein für die Thematik an Initiativen wie „Gemeinsam Klug Entscheiden“, die Denk- und Verhaltensmuster in der Gesundheitsversorgung verändern und zu verantwortungsvollen Entscheidungen für oder gegen medizinische Maßnahmen führen sollen. Dies geht auf die in den USA und Kanada gestartete Bewegung „Choosing Wisely“ zurück. Zudem existieren im deutschen Gesundheitswesen verschiedenste Maßnahmen wie etwa Wirkstoffvereinbarungen zur Steuerung der Verordnung von Medikamenten oder Maßnahmen zur Sicherung der Indikationsqualität, um die Menge von Gesundheitsleistungen gezielt zu steuern.
Die Ursachen von Überversorgung sind vielfältig
Die IGES-Recherchen zeigen ferner, dass es keinen verallgemeinernden Ursachen von Überversorgung gibt. Häufig sind es Wissensdefizite über Leitlinien, anspruchsvolle Patientenerwartungen, offene Diskussionen in der Ärzteschaft selbst, aber auch ökonomische Zwänge und Anreize. Daher sollten künftige Gegenmaßnahmen entsprechend differenziert gestaltet sein, so ein Fazit der IGES-Experten.