Ambulantisierung: Gutachten nennt 2.500 neue AOP-Leistungen
Die Möglichkeiten für ambulante Operationen und sonstige stationsersetzende Eingriffe in Krankenhäusern sollten Experten zufolge substanziell ausgeweitet werden. Ein Gutachten empfiehlt rund 2.500 medizinische Leistungen, die zusätzlich in den Katalog für ambulantes Operieren, kurz AOP-Katalog, aufgenommen werden sollten. Damit würde sich die Anzahl der derzeit möglichen ambulanten Leistungen von Kliniken nahezu verdoppeln. Vorgesehen ist zudem ein praktikables Verfahren für Krankenhäuser, mit dem je nach individueller Behandlungssituation ein stationärer Aufenthalt begründet werden kann. Dies soll die Patientensicherheit erhöhen, aber auch unnötige Prüfverfahren für Kliniken verhindern.
Titel der Studie: Gutachten nach § 115b Abs. 1a SGB V
Hintergrund: Im internationalen Vergleich gilt die Ambulantisierung der Medizin im deutschen Gesundheitssystem als unzureichend. Der Katalog ambulant durchführbarer Operationen, sonstiger stationsersetzender Eingriffe und stationsersetzender Behandlungen („AOP-Katalog“) soll dazu beitragen, unnötige und kostenintensive Krankenhausbehandlungen zu vermeiden. Der Gesetzgeber will, dass der Katalog substanziell erweitert wird. Ein überarbeiteter Katalog soll außerdem zu weniger Streit um Krankenhausabrechnungen beitragen. Die Grundlagen soll ein Gutachten liefern.
Fragestellungen: Wie ist der aktuelle Wissensstand über ambulant durchführbare Operationen, stationsersetzende Eingriffe und stationsersetzende Behandlungen?
Welche medizinischen Leistungen sollten künftig für Kliniken und niedergelassene Ärzte gleichermaßen ambulant durchführbar sein?
Wie kann der Schweregrad ambulanter Behandlungsfälle ermittelt werden, um erhöhten Versorgungsbedarf besser berücksichtigen zu können?
Methode: Auswertung verschiedener Datenquellen (u.a. Leistungsdaten der Krankenhäuser gem. §21-KHEntG, der vertragsärztlichen Versorgung und Daten der Qualitätsberichte der Krankenhäuser, Abrechnungsdaten der Krankenkassen, Daten der DRG-Statistik des Statistischen Bundesamtes, Abrechnungsstatistiken des BMG), Befragung von Ärzten, Krankenhäusern, Krankenkassen, medizinischen Fachgesellschaften, Auswertung nationaler und internationaler Fachliteratur
Ergebnisse: Der derzeitige Katalog ambulant durchführbarer Operationen, sonstiger stationsersetzender Eingriffe und stationsersetzender Behandlungen nach § 115b SGB V sollte stufenweise um 2.476 Leistungen gemäß OPS und 65 Leistungen gemäß DRG erweitert und damit die Anzahl der ambulant durchführbaren Leistungen nahezu verdoppelt werden. Um zu prüfen, ob wegen der patientenindividuellen Behandlungsumstände eine stationäre Aufnahme im Krankenhaus dennoch begründet ist, wird ein begleitendes, praktikables Verfahren empfohlen. Dies erhöht die Patientensicherheit und vermeidet unnötige Prüfverfahren für Kliniken.
Autoren: Dr. Martin Albrecht, Prof. Dr. Thomas Mansky, Dr. Monika Sander, Guido Schiffhorst, Expertenteam des österreichischen Gesundheitsforschungsinstituts Gesundheit Österreich GmbH
Auftraggeber: Kassenärztliche Bundesvereinigung, GKV-Spitzenverband, Deutsche Krankenhausgesellschaft
Schlagwörter: Ambulantisierung, Ambulantes Operieren, stationsersetzende Eingriffe, Krankenhaus, AOP-Katalog
Veröffentlichung: März 2022
Berlin, 1. April 2022 (IGES Institut) - Bislang zählt der AOP-Katalog 2.879 Leistungen. Neu hinzukommen könnten 2.476 Leistungen (gemäß Operationen- und Prozedurenschlüssel OPS), ein Plus um 86 Prozent auf insgesamt 5.355 Leistungen. Die meisten der für eine Erweiterung vorgeschlagenen Leistungen, rund 60 Prozent (1.482 Leistungen), sind Operationen, vor allem Operationen an der Haut, am Auge sowie am Muskel- und Skelettsystem. Zweithäufigste Neuaufnahme mit 546 Leistungen sind diagnostische Maßnahmen wie diagnostische Endoskopien.
Gesetzgeber beschließt AOP-Katalog substanziell zu erweitern
Erarbeitet hat den neuen AOP-Katalog das IGES Institut in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Gesundheitsforschungsinstitut Gesundheit Österreich. Dies erfolgte im Rahmen eines Gutachtens für die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), den GKV-Spitzenverbandes sowie die Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Die drei Organisationen der Selbstverwaltung vereinbaren den AOP-Katalog (Katalog ambulant durchführbarer Operationen, sonstiger stationsersetzender Eingriffe und stationsersetzender Behandlungen nach § 115b SGB V) sowie eine für Krankenhäuser und niedergelassene Vertragsärzte einheitliche Vergütung der darin enthaltenen Leistungen.
Mit dem Anfang 2020 in Kraft getretenen Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen (MDK-Reformgesetz) hatte der Gesetzgeber festgelegt, dass der AOP-Katalog substanziell erweitert werden sollte, um die Ambulantisierung voranzutreiben. Das Verzeichnis ist seit mehr als 15 Jahren weitgehend unverändert geblieben. Die Grundlagen dafür soll ein von KBV, GKV-Spitzenband und DKG beauftragtes Gutachten schaffen.
Neue AOP-Leistungen erfolgen rund 15 Millionen Mal pro Jahr
Die für eine Erweiterung des AOP-Katalogs empfohlenen Operationen und Prozeduren wurden im Jahr 2019 insgesamt rund 15 Millionen Mal zur vollstationären Behandlung von Patienten durchgeführt. Das sind mehr als ein Viertel aller etwa 58 Millionen vollstationär erfolgten Leistungen. Am häufigsten waren diagnostische Maßnahmen, die gut sieben Millionen Mal stationär vorkamen, überwiegend die Endoskopie, meist von Magen und Darm. Je nach patientenindividueller Situation, also dem Behandlungskontext, könnten diese Leistungen zukünftig teilweise ambulant durchgeführt werden.
Alles theoretisch ambulant Mögliche bewertet
Die relativ hohe Zahl von Leistungen, die Krankenhäuser gemäß den Empfehlungen zukünftig auch ambulant erbringen können, resultiert aus einem sogenannten potenzialorientierten Ansatz der Gutachter. Maßgeblich war, dass Möglichkeiten für eine ambulante Durchführung bestehen. Dies folgerten sie aus übergeordneten medizinischen Kriterien, aus Empfehlungen von Fachgesellschaften sowie aus AOP-Erfahrungen im Ausland. Die Experten berücksichtigten hierbei zudem Leistungen, die derzeit in AOP-nahen Versorgungsbereichen im Krankenhaus erbracht werden, etwa bei vor- oder teilstationären Behandlungen, stationären Behandlungsfällen mit kurzen Liegezeiten oder die im Zusammenhang mit ambulant-sensitiven Diagnosen stehen, also Erkrankungen, die in der Regel ambulant versorgt werden könnten.
Prüfverfahren für fallindividuellen stationären Behandlungsbedarf
Vor dem Hintergrund dieses offenen Ansatzes empfehlen die Gutachter daher ergänzend ein Prüfverfahren zu implementieren, mit dem Kliniken fallindividuell begründen können, warum sie Patienten wenn nötig doch stationär behandeln. Gründe dafür können erhöhte Krankheitsschwere, altersbedingte Risiken, soziale Begleitumstände oder erhöhte Betreuungsbedarfe der Patienten sein, also der jeweilige Behandlungskontext. Eine ambulante Durchführung entfällt auch, wenn eine AOP-Leistung nur eine ausschließlich stationär mögliche Behandlung begleitet.
Unnötige Prüfungen durch den Medizinischen Dienst für Kliniken vermeiden
Das Prüfverfahren, im Gutachten Kontextprüfung genannt, ist so konzipiert, dass es sich praktikabel und ohne größeren administrativen Mehraufwand umsetzen lässt. Kliniken können dafür bereits existierende Routinedokumentationen nutzen und automatisiert auswerten. Vorteil ist zudem, dass dadurch die im gegenwärtigen AOP-Katalog verwendeten undifferenzierten Leistungskategorien “in der Regel ambulant” oder “sowohl ambulant als auch stationär” entfallen können, weil je nach Fall entschieden werden kann. Dies soll nicht nur dazu beitragen, arbeitsaufwändige Prüfverfahren durch den Medizinischen Dienst (MD) künftig zu vermeiden. So leitete der MD im Jahr 2019 mehr als eine halbe Million Prüfverfahren wegen unzulässiger stationärer Behandlungen ein, wie Befragungen von Krankenkassen für das Gutachten ergaben. Bei rund 44 Prozent der Verfahren lag nach Ansicht des MDK wirklich eine Fehlbelegung vor.
Vor allem soll die neu entwickelte Kontextprüfung die Sicherheit für Patienten erhöhen, weil spezifisch auf individuelle Risiken und besondere Versorgungsbedarfe geschaut wird, die eine stationäre Aufnahme begründen können.
Schweregrade von Behandlungsfällen besser erkennen
Darüber ist eine weitergehende Abstufung der Kontextfaktoren vorgesehen, also der jeweiligen Krankheits- und Behandlungsumstände. Damit können Patienten identifiziert werden, die einen erhöhten Versorgungsaufwand bei ambulanter Durchführung benötigen. Anhand dieser Faktoren lassen sich die zu vereinbarenden sektoreneinheitlichen Vergütungen nach dem Schweregrad des Behandlungsfalles differenzieren und erhöhte Versorgungsbedarfe berücksichtigen. Dies können zusätzliche Nachbetreuungs- und Nachsorgeleistungen sein wie pflegerisch betreute Übernachtungen in einer ambulanten Einrichtung oder postoperative Patientenbesuche zu Hause, um den Heilungsverlauf, die Medikation oder Wunden zu kontrollieren.
Bisher existiert keine eindeutige AOP-Statistik
Eine genaue Übersicht zu den 2.879 Leistungen des aktuellen AOP-Kataloges ist aufgrund erheblicher Datenlücken - es gibt keine trennscharfe und vollständige AOP-Statistik für alle Versorgungsbereiche - nur eingeschränkt möglich. So können etwa diejenigen Leistungen nicht mitgezählt werden, die im Rahmen von Selektivverträgen oder durch Spezialambulanzen der Krankenhäuser oder Hochschulambulanzen erfolgen.
Auf Basis der derzeit verfügbaren Daten wurden im Jahr 2019 knapp 13 Millionen AOP-Leistungen erbracht, die sich rund 6,1 Millionen ambulanten und rund 2,7 Millionen stationären Behandlungsfällen zuordnen lassen. Generell nimmt die Anzahl ambulanter Operationen auf Basis des AOP-Kataloges, die in Krankenhäusern erfolgten, seit 2011 durchschnittlich um 1,1 Prozent pro Jahr ab.
Ambulant am Krankenhaus wurden etwa 2,2 Mio. AOP-Leistungen (Abschnitte 1 und 2 des AOP-Katalogs) durchgeführt. Am häufigsten waren Leistungen der Fachrichtungen Gastroenterologie, Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Gynäkologie. Mit einem Anteil von rund 16 Prozent war die diagnostische Koloskopie die häufigste Leistung.
In der vertragsärztlichen Versorgung entfiel etwa ein Drittel der insgesamt rund drei Millionen durchgeführten Leistungen von Abschnitt 1 des AOP-Katalogs auf den augenärztlichen Bereich. Besonders häufig kamen auch Eingriffe an der Hand, Gelenken und Varizen vor.
Neue AOP-Leistungen schrittweise implementieren
Die potenzialorientierten Vorschläge zur Erweiterung des AOP-Katalogs sind längerfristig ausgerichtet, da sich nicht alle der vorgeschlagenen neuen ambulanten Leistungen sofort umsetzen lassen. So ergeben sich bei einem Teil der empfohlenen Leistungen erweiterte Möglichkeiten einer ambulanten Durchführung, wenn die Patientensicherheit durch eine längere und intensivere postoperative Nachbetreuung erhöht wird. Dafür müssten vielerorts erst die strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen geschaffen werden. Die Gutachter empfehlen daher, den AOP-Katalog stufenweise und im Sinne eines „lernenden Systems“ umzusetzen und intensiv wissenschaftlich-fachlich zu begleiten.