Corona-Pandemie: kritische Bestandsaufnahme der Arbeit der Gesundheitsämter nötig
Nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie braucht es eine kritische Bilanz der Arbeit der Gesundheitsämter. Nach Ansicht des Leiters des IGES Instituts, Professor Bertram Häussler, sollten die staatlichen Behörden von Aufgaben der Pandemiebekämpfung befreit werden, die sie insbesondere in Hochzeiten der Pandemie ohnehin nicht leisten können. Es brauche eine gründliche Aufarbeitung der Abläufe und Strukturen, damit die Gesundheitsämter ihre wichtige Aufgabe erfüllen können: die öffentliche Gesundheit effektiv zu schützen.
Berlin, 19. März 2022 (IGES Institut) - „Die Gesundheitsämter in Deutschland haben in der Zeit der Corona-Pandemie unter enormem Druck mit höchstem Einsatz gearbeitet. Und dies unter vielfach unzumutbaren Bedingungen, denn die Pandemie hat gezeigt, wie sehr diese zentrale Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitsschutzes über Jahrzehnte vernachlässigt wurde“, sagte Professor Häussler anlässlich des diesjährigen „Tag des Gesundheitsamtes“. Häussler leitet zudem die Analysen des IGES Pandemie Monitors, der seit Herbst 2020 Daten zur Entwicklung der Corona-Pandemie in Deutschland bereitstellt.
„Unsere Analysen zeigen den enormen positiven Effekt der Impfungen mit einem Rückgang der Sterblichkeit seit dem Beginn des Impfprogramms um 98 Prozent. Sie zeigen aber auch, dass den Gesundheitsämtern Aufgaben aufgebürdet wurden, die in einer massiven Pandemie mit diesen Fallzahlen durch sie nicht gelöst werden können. Und es wurden keine Alternativen geschaffen.“
So ist Deutschland in Ferienzeiten – insbesondere über die Jahreswechsel – immer wieder im Datenblindflug unterwegs (IGES Pandemie Monitor Meldung vom 23.12.2021), da die Aktivitäten im Gesundheitswesen und den Gesundheitsämtern zurückgefahren wurden. Eine Lösung wäre es gewesen, stattdessen Pilotregionen oder Testkohorten einzurichten, um auch in Ferienzeiten valide Daten über das Infektionsgeschehen zu gewinnen und die Gesundheitsämter zu entlasten.
Zuordnung von Corona-Infektionen zu Ausbrüchen unmöglich
Der IGES Pandemie Monitor hat auch gezeigt, dass es den Gesundheitsämtern auch in Phasen geringer Inzidenz nicht möglich war, Infektionsfälle regelhaft Ausbrüchen zuzuordnen. Die Infektionslage blieb vielfach „diffus“ (IGES Pandemie Monitor Meldung vom 06.03.2021). Bereits bei mehr als 10.000 Fällen pro Woche sinkt die Rate der Fälle, die einem Ausbruch zugeordnet werden können auf unter 30 Prozent. So niedrige Zahlen gab es 2021 nur an 33 Tagen. Derzeit sind die Fallzahlen 20mal höher.
Nachverfolgung von Corona-Fällen kaum wirksam
Die Nachverfolgung von Kontaktpersonen bindet heute einen Großteil der Fachkräfte in Gesundheitsämtern, kann praktisch nicht geleistet werden und ist obendrein eine der am wenigsten wirksamen nicht-pharmazeutischen Maßnahmen, wie ein systematischer Review von Studien zur Effektivität nicht-pharmazeutischer Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung 1 zeigt. Professor Häussler: „Die Kräfte der Gesundheitsämter werden also mit den falschen Aufgaben gebunden, was sie permanent fehlenden Erfolgserlebnissen aussetzt.“
Gesundheitsämter befinden sich in einem Teufelskreis
Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, sollte nach Ansicht von Häussler in der nächsten Zeit eine ergebnisoffene Bestandsaufnahme der Aufgabenstellungen des Gesundheitsamtes erfolgen: „Es kann dabei nicht nur um ein Mehr an Personal oder Computer gehen, sondern auch um eine nüchterne Bewertung dessen, was überhaupt erreicht werden kann, welche Mittel dazu erforderlich sind und was eine mögliche nächste Pandemie wirksam bekämpfen kann.“
Prof. Häussler: „Es liegt auf der Hand: Deutschland braucht eine gründliche Bewertung der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitswesens im Pandemiefall. Der Reformbedarf ist offensichtlich.“
Er plädiert dafür, die Gesundheitsämter von unzureichender technischer und personeller Ausstattung und von mangelnder Digitalisierung zu befreien. Vor allem sollten sie aber von Aufgaben befreit werden, die sie nicht leisten können und die von fehlender Koordination, mangelhafter Bewertung und ausbleibender Korrektur von Maßnahmen, Abläufen und deren Effekten gekennzeichnet sind. Damit die Gesundheitsämter Ihre wichtige Aufgabe erfüllen können - die öffentliche Gesundheit effektiv zu schützen.“
1: Mendez-Brito, A; El Bcheraoui, C.; Pozo-Martin, F.: „Systematic review of empirical studies comparing the effectiveness of non-pharmaceutical interventions against COVID-19“; Journal of infection 83 (2021), 281-293