Jeder zehnte Kniegelenkersatz ist vermeidbar
Viele Kniegelenkersatz-Operationen müssen nicht sein oder können um Jahre hinausgezögert werden. Mit einer besseren präventiven Versorgung könnte jedem zehnten mit einem Kniegelenkimplantat die Operation erspart bleiben. Bei rund vier Prozent der Betroffenen wäre es zumindest möglich, eine Erstimplantation um durchschnittlich rund sieben Jahre hinauszuzögern. Ein derartiges Präventionsprogramm kann trotz eigener Programmkosten bei bestimmten Patientengruppen unter dem Strich sogar zu Einsparungen führen.
Berlin, 16. Januar 2023 (IGES Institut) - Das zeigt eine Simulationsstudie des IGES Instituts im Auftrag der DAK Gesundheit. Dabei hat das IGES Wissenschaftlerteam den potenziellen Nutzen eines konservativen, nicht-medikamentösen Intensivprogramms bei Kniegelenkverschleiß, medizinisch Kniearthrose (Gonarthrose, GA), modelliert. Hintergrund ist, dass derzeit noch große Defizite bei der Behandlung der Kniearthrose bestehen, weil nicht alle fachärztlichen und physiotherapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. So haben etwa 15 Prozent der DAK-Versicherten im Jahr vor der Implantat-OP keinen Kontakt zu niedergelassenen Fachärzten für Orthopädie oder Unfallchirurgie.
Fast jeder zweite mit einer Kniegelenk-OP erhält vorher keine Physiotherapie
Literaturanalysen für die Studie zeigen, dass eine wirksame konservative Behandlung der GA aus drei Elementen bestehen sollte: Bewegungstraining, Patientenschulung sowie Hilfe bei der Gewichtsabnahme. Derzeit bekommt jedoch fast die Hälfte der Betroffenen (43,3 Prozent) in den fünf Jahren vor ihrem Kniegelenkersatz keine Physiotherapie verordnet, wie IGES-Auswertungen der Versorgungsdaten von 1,1 Millionen DAK-Versicherten ergaben.
Knieschmerzen infolge von Gelenkverschleiß sind häufig. Im Altersbereich ab 40 Jahren leiden 5,7 Prozent der DAK-Versicherten dauerhaft an Kniearthrose. Frauen sind mit 6,6 Prozent deutlich häufiger betroffen als Männer (4,1 Prozent). 9,5 Prozent der Versicherten mit chronischer Kniearthrose erhalten innerhalb von fünf Jahren einen Kniegelenkersatz. Das entspricht 0,5 Prozent aller DAK-Versicherten. Jeder zehnte mit chronischer Kniearthrose ist bei der Erstimplantation binnen fünf Jahren jünger als 60 Jahre alt. 60 Prozent davon sind fettleibig, medizinisch adipös.
Zweistufiges und digital unterstütztes Versorgungskonzept entwickelt
Für die Studie entwickelten die IGES-Fachleute ein zweistufiges Versorgungskonzept „Knieschmerzen und Gonarthrose“, das sich an gut evaluierte, internationale Vorbilder anlehnt. Es wird von einem Physiotherapeuten durchgeführt und beinhaltet zwölf Gruppensitzungen über einen Zeitraum von sechs Wochen. Teilnehmer erhalten im Anschluss einen individuellen Trainingsplan mit digitaler Unterstützung. Auch Einzel-Ernährungscoachings sind möglich.
Im Anschluss berechneten die Experten, wie sich die breite Einführung eines derartigen Programms auf die Bevölkerung auswirken und wie der Bedarf nach Knieendoprothesen sinken würde. Rechnerisch wurde zunächst die Häufigkeit ermittelt, mit der eine Alterskohorte von einer Million 40-jährigen Männern und Frauen im Zeitverlauf von 50 Jahren ein Kniegelenkimplantat eingesetzt bekommt. Unter den derzeitigen Bedingungen der medizinischen Versorgung von GA-Betroffenen sind dies rund 49.400 Menschen.
Die Modellierung des Effekts der Teilnahme an den Interventionsmaßnahmen orientiert sich an den in wissenschaftlichen Studien berichteten Effekten von vergleichbaren Interventionsprogrammen auf die Wahrscheinlichkeit der Implantation einer Knieendoprothese bei Gonarthrose und der Effektdauer dieser Programme.
Der Studie zufolge könnte durch eine verbesserte Versorgung der Gonarthrose die Häufigkeit einer Knieendoprothese je nach Umfang und Zusammensetzung der Teilnehmer im Hinblick auf ihr Gelenkersatz-Risiko zwischen 7,1 bis 11,5 Prozent verringert werden. Bei weiteren 3,4 bis 4,3 Prozent der Menschen mit Kniegelenkersatz könnte die Erstimplantation um durchschnittlich 7,1 bis 7,5 Jahre hinausgeschoben werden.
Programmkosten von 46 Millionen Euro stehen 50 Millionen Euro Einsparungen gegenüber
In bestimmten Konstellationen ist ein derartiges Unterstützungsprogramm auch wirtschaftlich. Nehmen überwiegend Betroffene mit einem hohen Risiko für einen Kniegelenkersatz an den Maßnahmen teil, sind Programmkosten von knapp 46 Millionen Euro zu veranschlagen, zeigen die gesundheitsökonomischen Berechnungen. Dem stehen Einsparungen durch entfallende Implantationen in Höhe von fast 50 Millionen Euro gegenüber – eine Nettoeinsparung von mehr als vier Millionen Euro. Die Zusatzkosten für ein GA-Intensivprogramm für Versicherte mit niedrigerem Gelenkersatz-Risiko ließen sich hingegen nicht durch Einsparungen kompensieren, sondern es würde zu Mehrausgaben in Höhe von rund 9,7 Millionen Euro kommen.