World Mental Health Day: Mehr für Menschen mit schizophrenen Erkrankungen tun

+ Einheitliche Empfehlungen für eine bundesweite bessere Versorgung gefordert
+ Neues Weißbuch Schizophrenie beschreibt aktuelle Situation

Berlin, 9. Oktober 2024 (IGES Institut) – Zum World Mental Health Day am 10. Oktober fordern Expertinnen und Experten eine bessere Versorgung von Menschen mit Schizophrenie. Sie raten, einheitliche Empfehlungen für den Ausbau der derzeitigen Versorgungsstrukturen für die schwere psychische Erkrankung zu entwickeln. Diese Empfehlungen sind nötig, da noch immer gravierende Defizite bei Früherkennung, Frühintervention, Koordination der Behandlung sowie der Teilhabe Betroffener bestehen.

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Prof. Dr. Anne Karow, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf , bei der Vorstellung des Weißbuchs Schizophrenie am 9. Oktober 2024 in Berlin.

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Dr. Norbert Gerbsch, Leiter Public Affairs, IGES Institut, bei der Vorstellung des Weißbuchs Schizophrenie am 9. Oktober 2024 in Berlin.

Das geht aus dem „Weißbuch Schizophrenie“ des IGES Instituts hervor, das zum World Mental Health Day in Berlin vorgestellt wurde. Es gibt einen Einblick in das aktuelle Wissen über die schwere Erkrankung.

Schizophrenie ist eine psychische Krankheit, bei der das Denken, die Wahrnehmung und das Erleben Betroffener phasenweise fundamental verändert sind. Typisch sind zudem herabgesetzte Gefühlsempfindungen und kognitive Beeinträchtigungen. In Deutschland erkranken jährlich etwa 19 von 100.000 Menschen daran. Das entspricht knapp 16.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Die Krankheit ist multifaktoriell bedingt, verläuft individuell sehr unterschiedlich und teilweise chronisch.

Frühe Behandlung verbessert Prognose

Der Beginn einer Behandlung ist entscheidend für den weiteren Krankheitsverlauf. Ein früherer Behandlungsbeginn steigert die Wahrscheinlichkeit einer Remission, also des Rückgangs der Krankheitssymptome und der Beeinträchtigung um das Zwei- bis Dreifache. Er verbessert die allgemeine Funktionsfähigkeit und erhöht die Wahrscheinlichkeit des Ansprechens auf Antipsychotika (1).

Allerdings verweilen Betroffene in Deutschland für etwa vier Jahre unerkannt in einem klinischen Hochrisikostadium (2). Manifeste Psychosen bleiben durchschnittlich ein Jahr lang unbehandelt (3).

Nötig ist daher eine bessere Früherkennung, konstatiert das Weißbuch Schizophrenie. Zwar existieren vielversprechende Modellprojekte für Früherkennung, die jedoch häufig regional begrenzt bestehen. Erschwerend kommt hinzu, dass nur ein Viertel der Betroffenen im Vorstadium überhaupt Hilfe sucht (4).

Mental Health Krise bei jungen Menschen

Vor allem mit Blick auf junge Menschen ist eine bessere Früherkennung dringend geboten, wie Prof. Anne Karow, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) betont: „Wir sehen eine Mental Health Krise bei jungen Menschen mit einem hohen Risiko für schwere psychische Erkrankungen. Für sie benötigen wir niedrigschwellige und zielgruppengerechte Früherkennungsangebote, um möglichst früh eine mögliche psychiatrische Diagnose zu erkennen.“

Eine erste akute Krankheitsepisode manifestiert sich bei Schizophrenie meist im Alter von 18 bis 35 Jahren. Dem kann eine etwa fünfjährige Phase von unspezifischen psychischen Veränderungen vorausgehen (Prodromalstadium). Rund ein Jahr vor der Erstmanifestation können erste psychotische Symptome wie eigenartiges, magisches Denken oder paranoide Vorstellungen auftreten (5).

Früherkennung flächendeckend ausbauen

Bestehende niedrigschwellige Früherkennungszentren sollten flächendeckend ausgebaut und besser mit anderen sozialen Leistungsbereichen, etwa mit der Sozialhilfe oder Kinder- und Jugendhilfe, vernetzt werden, was neue Finanzierungsmöglichkeiten erfordert. Nötig ist es zudem generell, mehr über schwere psychische Erkrankungen aufzuklären und damit einhergehende Stigmata abzubauen, heißt es im Weißbuch.

Versorgungsbrüche durch mangelnde Koordinierung der Behandlung

Die direkten Krankheitskosten der Schizophrenie steigen seit Jahren. Lagen diese im Jahr 2015 nach Zahlen des statistischen Bundesamtes bei 1,9 Milliarden Euro, waren es 2020 bereits 2,5 Milliarden Euro - ein Plus von 30 Prozent (6). Als wichtige Ursachen nennt das Weißbuch die immer noch bestehenden erheblichen Behandlungsverzögerungen und -diskontinuitäten sowie die unzureichende sektorenübergreifende Vernetzung (7).

Da diverse Akteure an der Versorgung beteiligt sind und verschiedene Kostenträger berücksichtigt werden müssen, kommt es oft zu wechselnden Ansprechpersonen und Unterbrechungen der Versorgung. Zwar gibt es inzwischen zahlreiche Modellprojekte für eine bessere intersektorale Zusammenarbeit und Stärkung ambulanter Behandlungsmöglichkeiten, diese bestehen jedoch häufig nur punktuell oder regional begrenzt.

„Versorgungsangebote müssen sich am Bedarf der Patientinnen und Patienten orientieren“, betont Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). „Wir müssen flexibel und patientenorientiert behandeln können, stationär, ambulant oder auch aufsuchend. Wenn wir zudem sicherstellen, dass Behandlungen leicht zugänglich sind und wir eine bessere Steuerung in ärztlicher Verantwortung ermöglichen, können wir die Versorgung nicht nur für Menschen mit Schizophrenie flächendeckend verbessern.“

Einheitliche Empfehlungen nach bekannten Modellen gefordert

Um das umfangreiche Wissen über eine optimale Versorgung der Schizophrenie künftig besser zu nutzen, sollten einheitliche Empfehlungen entwickelt werden, die sich an erfolgreichen Modellen wie dem Nationalen Krebsplan orientieren. Durch derartige übergreifende Initiativen kann die psychiatrische Versorgung nachhaltig gestärkt werden, so das Fazit des Weißbuchs Schizophrenie.

Das Weißbuch „Schizophrenie – Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven“ haben IGES-Wissenschaftler unter Einbezug namhafter Fachleute verfasst. Es zeigt das aktuelle Wissen über die Erkrankung Schizophrenie sowie ihre Versorgung und gibt Empfehlungen zur Verbesserung der Versorgungssituation. Das Werk erscheint bei der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft und entstand mit finanzieller Unterstützung des Unternehmens Boehringer Ingelheim.

Wissenschaftliche Quellen:

  • (1) Brasso C, Giordano B, Badino C, Bellino S, Bozzatello P, Montemagni C, Rocca P (2021) Primary Psychosis: Risk and Protective Factors and Early Detection of the Onset. Diagnostics 11, 2146
  • (5) Gaebel, Wolfgang; Wölwer, Wolfgang (2010): Gesundheitsberichterstattung des Bundes - Heft 50 - Schizophrenie. Hg. v. Robert Koch-Institut. Berlin. Online verfügbar unter https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsT/Schizophrenie.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt geprüft am 27.06.2024.
  • (1) Howes, Oliver D.; Whitehurst, Thomas; Shatalina, Ekaterina; Townsend, Leigh; Onwordi, Ellis Chika; Mak, Tsz Lun Allenis et al. (2021): The clinical significance of duration of untreated psychosis: an umbrella review and random-effects meta-analysis. In: World psychiatry : official journal of the World Psychiatric Association (WPA) 20 (1), S. 75–95. DOI: 10.1002/wps.20822.
  • (7) Kovács, G.; Almási, T.; Millier, A.; Toumi, M.; Horváth, M.; Kóczián, Kristóf et al. (2018): Direct healthcare cost of schizophrenia - European overview. In: Eur Psychiatry 48, S. 79-92. DOI: 10.1016/j.eurpsy.2017.10.008.
  • (1) Lambert, Martin; Kraft, Vivien; Rohenkohl, Anja; Ruppelt, Friederike; Schröter, Romy; Lüdecke, Daniel et al. (2019): Innovative Versorgungsmodelle für Menschen mit schizophrenen Erkrankungen. In: Bundesgesundheitsbl. 62 (2), S. 163-172. DOI: 10.1007/s00103-018-2868-y.
  • (1) (3) Leopold, Karolina; Becker, Thomas; Förstl, Johann; Kiefer, Falk; Millas, Walter de; Janetzky, Wolfgang et al. (2020): Frühintervention bei Schizophrenie - ein Update. In: Fortschr Neurol Psychiatr 88 (6), S. 387-397. DOI: 10.1055/a-0918-6071.
  • (7) Mehl, S.; Falkai, P.; Berger, M.; Löhr, M.; Rujescu, D.; Wolff, J.; Kircher, T. (2016): Leitlinienkonforme psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung für Patienten mit Schizophrenie: Eine normative Berechnung des benötigten Personalbedarfs. In: Der Nervenarzt 87 (3), S. 286-294. DOI: 10.1007/s00115-015-0056-y.
  • (7) Meisenzahl, E.; Walger, P.; Schmidt, S. J.; Koutsouleris, N.; Schultze-Lutter, F. (2020): Früherkennung und Prävention von Schizophrenie und anderen Psychosen. In: Nervenarzt 91 (1), S. 10-17. DOI: 10.1007/s00115-019-00836-5.
  • (2) Reventlow, Heinrich Graf von; Krüger-Özgürdal, Seza; Ruhrmann, Stephan; Schultze-Lutter, Frauke; Heinz, Andreas; Patterson, Paul et al. (2014): Pathways to care in subjects at high risk for psychotic disorders - a European perspective. In: Schizophr Res 152 (2-3), S. 400-407. DOI: 10.1016/j.schres.2013.11.031.
  • (4) Schultze-Lutter, Frauke; Rahman, Jonas; Ruhrmann, Stephan; Michel, Chantal; Schimmelmann, Benno G.; Maier, Wolfgang; Klosterkötter, Joachim (2015): Duration of unspecific prodromal and clinical high risk states, and early help-seeking in first-admission psychosis patients. In: Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 50 (12), S. 1831-1841. DOI: 10.1007/s00127-015-1093-3.
  • (6) Statistisches Bundesamt (Destatis) (2024): Krankheitskosten: Deutschland, Jahre, Krankheitsdiagnosen (ICD-10), Geschlecht, Einrichtungen. Statistisches Bundesamt. Online verfügbar unter https://www-genesis.destatis.de/genesis//online?operation=table&code=23631-0004&bypass=true&levelindex=1&levelid=1717577495066#abreadcrumb, zuletzt geprüft am 05.06.2024.